Verbilligung oder Verheiligung?
Carmen wird häufig als Inbegriff einer starken Frauenpersönlichkeit beschrieben. Welche Überlegungen verbinden sich für Sie als Regisseurin mit dieser weiblichen Titelfigur?
Ob Carmen üblicherweise tatsächlich so häufig als starke Persönlichkeit präsentiert wird, weiß ich nicht. Man könnte sie vielleicht eher als manipulativ bezeichnen, und sie setzt sich über gängige Moralvorstellungen hinweg. Carmen ist sozusagen die ultimative ›vagina dentata‹ („Vagina mit Zähnen“). Man darf keinesfalls der Gefahr erliegen, sie als Figur ohne wirkliche Tiefe, als bloße Projektionsfläche für die Träume von Männern zu zeigen, als Verführerin und Verlockung, als ein Wesen, das aus sexuellen Motiven launenhaft soziale Normen aushebelt. Was auch immer sich hinter dieser weithin verbreiteten Vorstellung von einer sogenannten ›starken‹ Frau verbergen mag: Carmen ist in jeder Hinsicht eine unangepasste Frau und büßt diese ihre Absage an normierte Verhaltensmuster, gerade so als habe sie sich eine Sünde zuschulden kommen lassen, schlussendlich mit ihrem Leben. Nach bürgerlichen Wertvorstellungen könnte man sagen: Sie muss, egal wieviel Bewunderung sie uns als Persönlichkeit auch abringen mag, letztendlich sterben, um den gängigen Moralvorstellungen Genüge zu tun. In unserer Inszenierung ist sich Carmen von Anfang an dessen bewusst, dass das Spiel für sie tödlich enden wird – dass alles darauf angelegt ist, sie am Ende zu opfern. Sie sieht, dass es ihr Los ist, einerseits aufs bloße Fleisch reduziert, andererseits wie eine Göttin erhöht und schließlich – in einem fehlgeleiteten Versuch der Kontrolle – geschlachtet zu werden. Die Art und Weise, wie sie mit diesem Wissen umgeht und dabei ihre Position gegenüber ihrer Umwelt wahrt, ist ihre eigentliche Stärke.
Was die Verehrung angeht, die Carmen zuteil wird, bedienen Sie sich mythologischer Bezüge. Worauf beziehen Sie sich dabei?
In dem berühmten Tempelbau ›Artemision in Ephesus‹ ist Artemis, Göttin der Jagd, mit Dutzenden von Stierhoden behangen – als Zeichen ihrer Stärke, Fruchtbarkeit und ihrer Geschicklichkeit bei der Jagd. Tausende von Jahren später hat sich das Bild der Weiblichkeit gewandelt, aus der Schlächterin ist sozusagen eine Geschlachtete geworden, etwa so, wie in zahlreichen Tuschezeichnungen und Gemälden Picassos, in denen der tote Stier am Ende eines Stierkampfs mit einer am Boden liegenden Frau gleichgesetzt wird. In unserer Symbolwelt wird, wenn es um das Bild der Frau oder um das Weibliche geht, in besonderer Weise das Opfer oder das Leiden hervorgehoben und gefeiert – bei weiblichen Heiligendarstellungen, bei der Jungfrau Maria, überhaupt in der katholischen Kunst, und speziell auf der Iberischen Halbinsel und in früheren Kolonien.
Kommt dem Handlungsort Spanien also jenseits des bloßen Kolorits eine besondere Bedeutung zu?
Der Handlungsort vermittelt sich durch die Omnipräsenz von Leben, Tod und Religion – und eben durch die Kombination dieser drei Komponenten im ›Sport‹ des Stierkampfes, der in der Oper „Carmen“ eine so besondere Rolle spielt. Im Kontext des Stierkampfes bringen wir das Weibliche – mit den gleichzeitig verwendeten Attributen der zunächst vorgeblichen Erhöhung, dann tatsächlichen Abschlachtung – assoziativ mit der Opferung des Stiers in Verbindung.
Was ergibt sich dabei in Hinsicht auf weibliche und männliche Positionen bzw. den sogenannten Geschlechterkampf?
Wir vertreten in unserer Produktion eine entschieden pessimistische Sicht auf diese Dynamik. Das schließt nicht aus, dass wir bis zu einem gewissen Grad auch Humor und Leichtigkeit walten lassen – aber grundsätzlich gibt der Umgang zwischen Frauen und Männern, wie er sich in dieser Geschichte vermittelt, keinen Anlass zu Optimismus.
Ist es dabei aber nicht zuletzt auch Carmen, die sich in manchen Situationen als rücksichtslos oder – nach gesellschaftlichen Maßstäben – als unsozial erweist?
Nein. Sie wird mit Anforderungen und Erwartungen einer Gesellschaft konfrontiert und erlaubt sich, darauf selbstbestimmt zu reagieren. Anstatt zu versuchen, ein ›Spiel mitzuspielen‹ – was eine Außenstehende wie sie sowieso nie wirklich erfolgreich tun kann – lehnt sie es ab und versucht sogar, es zu vereiteln. Ich denke, sie ist – was ihre Krise mit José betrifft – verzweifelt auf der Suche nach einem Ausweg. Ich denke auch, dass sie zunächst eine große Hoffnung in José gesetzt hat – es besteht kein Zweifel an der Aufrichtigkeit ihrer Liebe zu ihm. Sobald sie aber merkt beziehungsweise sich eingestehen muss, dass er – mit seinen Vorstellungen vom Leben, mit der Vereinnahmung ihrer Person, seinen Vorwürfen und seinen Erwartungen an sie – für sie als Frau nicht weniger ›toxisch‹ ist als das herrschende ›System‹, entscheidet sie sich für einen anderen Ausweg.
Stichwort System: Mit welchen herrschenden Regeln und Zuständen hätte Carmen in unserer heutigen westlichen Gesellschaft zu brechen?
Zum Beispiel mit der Dualität, der sich viele Frauen in unserer Gesellschaft immer noch ausgesetzt sehen, sich entweder als Heilige oder als Hure ansehen lassen zu müssen. Auch in den romantischen Opern des Repertoires ist dieser Gegensatz allgegenwärtig. Ein Beispiel aus der Gegenwart: Die US-amerikanische Politikerin Katie Hill sieht sich gezwungen, ihren Sitz im Kongress aufzugeben, und zwar deswegen, weil ihr Ehemann, der sie sexueller Verbindungen mit einem Mitarbeiter bezichtigt, Fotos sexuellen Inhalts von ihr in Umlauf gebracht hat. Diese Fotos schädigen und zerstören sie, weil sie den Umstand offenlegen, dass eine quasi Heilige, eine nur als makellos zu vermittelnde weibliche Person des öffentlichen Lebens, Sehnsüchte und ein Sexualleben hat. Dieser Vorgang, der sich bei einem männlichen Politiker nicht ereignen könnte, hat ihre Karriere zerstört. Eine Frau in der modernen Gesellschaft muss sich damit arrangieren, dass ihr Körper eine Währung darstellt, die den Kategorien von Verbilligung oder Verheiligung unterliegt. Bei Männern wird die Sexualität als selbstverständlicher Teil ihres Mann-Seins quasi vorausgesetzt, das Heilige und das Sexuelle sind sozusagen gut integriert, Frauen jedoch haben sich zu entscheiden, wo sie stehen. Die Mischung von Heiliger und Hure in einer Person wird als gefährlich eingestuft. Dieser Gegensatz zeigt sich nicht nur im Gegensatz der Frauenbilder am Beispiel von Carmen und Micaëla, sondern – was unsere Produktion betrifft – im Gegensatz der Symbole von essbarem, konsumierbarem Fleisch und der Jungfrau Maria, dem unberührbaren und heiligen Fleisch. Beim Übergang vom ersten Akt, der Markthalle mit den Fleischständen, hin zum zweiten Akt sehen wir Carmen als Objekt der Verheiligung, später erleben wir Carmen, Frasquita und Mercédès als konsumierbares Fleisch, als Prostituierte, im vierten Akt ist Carmen, an der Seite des gefeierten Escamillo, kurz bevor José erscheint, wieder ein unerreichbares Objekt der Verehrung und Anbetung. Carmen kämpft, wie wir Frauen es alle tun, gegen die allgegenwärtige unkorrekte und auf erschreckende Art doppelgesichtige Darstellung von Weiblichkeit.
Sie haben – aus Ihrer Sicht als Regisseurin – Carmen zu Beginn der Proben als eine besondere Herausforderung bezeichnet? Wie hat sich das im Probenverlauf weiterentwickelt?
Jeder hat nun mal seine Vorstellung davon, was Carmen sein sollte. Menschen, selbst ganz unvoreingenommene, haben unsere Proben gesehen und gefragt, ob wir Carmen absichtlich ent-feminisiert hätten. Ich kann nur vermuten, das liegt daran, dass Carmen hier nicht in betont verführerischer Aufmachung, mit Kastagnetten und einer langstieligen Rose zwischen den Zähnen gezeigt wird. Aber diese Klischees hinter sich zu lassen, ist eben genau die Herausforderung. Wir möchten eine dreidimensionale, denkende, fühlende, lebendige Carmen – eben eine, die uns auch heute anspricht. Es darf, mit Verlaub, aber auch eine große, opulente Show mit viel Herz werden – und natürlich hoffe ich, dass das Publikum bereit sein wird, eventuelle Erwartungen hinter sich zu lassen und stattdessen die Carmen, die wir in dieser Produktion zeigen, offen zu betrachten. Ich hoffe, dass es uns auf dieser ekstatischen, verstörenden und bewegenden dunklen Reise folgen wird.