Sieben Thesen
Dramaturg Marc Schachtsiek über die Inszenierung von LUCIA DI LAMMERMOOR
Eins
Belcanto-Opern wie "Lucia di Lammermoor" setzen ihre Protagonisten gern von Beginn an unerträglichem Druck aus, der dann von Akt zu Akt und Nummer zu Nummer erhöht wird – bis sie an ihm zerbrechen. Niemals lässt er nach, nie gibt es einen Moment der Entspannung. Um diesen emotionalen Überdruck zu erzeugen, ist den Librettisten und Komponisten jedes noch so plakative erzählerische Mittel recht: Hauptsache, die unlösbaren zwischenmenschlichen Konflikte, in die sie die Figuren treiben, sind für den Zuschauer sofort evident.
Zwei
Im frühen 19. Jahrhundert verliert die Sprache in der italienischen Oper das Privileg, Informationen zu vermitteln. Die Gesangsstimmen werden zunehmend instrumental geführt und von den Librettisten wird gefordert, so verknappt zu schreiben, dass der Zuhörer den emotionalen Sinngehalt einer Szene idealiter anhand eines einzigen Wortes erfassen kann. Am liebsten legen sie den Opern deshalb Handlungsschemata zugrunde, die die Zuschauer bereits aus beliebten Romanen oder Theaterstücken kennen, und verdichten die Konfliktlagen zusätzlich, indem sie die Anzahl der Figuren reduzieren und einzelnen Protagonisten mehrere Konfliktlagen aus der Vorlage zugleich aufbürden. Im Falle von LUCIA DI LAMMERMOOR ist dies der historische Roman "The Bride of Lammermoor" (1819) von Sir Walter Scott, ein internationaler Bestseller des 19. Jahrhunderts, dessen Handlung und ihr historischer politischer Kontext – die schottisch-englischen bürgerkriegsähnlichen Konflikte zwischen der ›Glorious Revolution‹ von 1688 / 89 und dem ›State of Union Act‹ von 1707 – wegen dieser Popularität als bekannt vorausgesetzt werden konnten. Die Handlung der Oper LUCIA DI LAMMERMOOR beginnt denn auch erst im 19. von 34 Kapiteln des Romans, mit dem Abschied Edgar Ravenswoods von Miss Lucy Ashton, deren Vater der größte Feind seines Vaters war, der er jedoch so zugetan ist, dass er angesichts seiner Abreise eine heimliche Verlobung mit ihr eingeht. Warum die Väter Feinde waren und wie sich soeben eine politische Wende ankündigt – von Scott detaillreich und historisch korrekt zuvor erzählt – wird in der Oper nur in wenigen Sätzen ihres Bruders vor dessen Auftrittsarie angedeutet. Er ist in Salvadore Cammaranos Libretto ihr einziger Verwandter, ein bizarres und deshalb emotional besonders zerrissenes Amalgam aus Lucys arroganter, gefühlskalter und intriganter Mutter (die in der Oper soeben verstorben ist), ihrem weichen, politisch wendigen und moralisch nicht integren Vater (der in der Oper seit längerem verstorben scheint), ihrem hoch aggressiven älteren Bruder Captain Sholto Ashton und ihrem jüngeren, sie zärtlichliebenden Bruder Henry, dessen Namen der Opern-Bruder auch trägt: Enrico.
Drei
Lange Zeit galten Belcanto-Opern als literarisch, musikalisch und kulturhistorisch banal und keiner ernsthaften Auseinandersetzung würdig. Dann kam der Feminismus und entdeckte in LUCIA DI LAMMERMOOR einen theatralen und gesellschaftlichen Prozess, in dem der virtuose Gesang einer Koloratursopranistin der zeitgenössischen, streng patriarchalen Ordnung, die jede freie Entfaltung von Frauen unterdrückt und sie aus politischen Opportunitätsgründen wie ein Stück Fleisch von Vater (oder Bruder) an den Ehemann weiterreicht, auf subversive Weise Widerstand entgegensetzt – den Mord am aufgezwungenen Bräutigam – und danach, geschützt durch dramaturgisch klug eingesetzten Wahnsinn und das Mitleid der Zuhörer, weiblichen Positionen in der Öffentlichkeit eine Stimme verleihen kann. Für die Zuschauer der Uraufführung war allerdings, das belegen die zeitgenössischen Berichte, nicht Lucias Wahnsinnsszene, sondern Edgardos Selbstmord, mit dem die Oper endet, der wichtigste und vor allem berührendste Moment des Abends. LUCIA DI LAMMERMOOR ist durchaus die Geschichte einer jungen Frau, die von ihrem Bruder gezwungen wird, den Mann, den sie liebt, aufzugeben, stattdessen einen politisch opportunen Mann zu heiraten, den sie weder kennt noch liebt, und die nach dem Mord an ihm während der Hochzeitsnacht in den Wahnsinn abgleitet. Aber „ Lucia di Lammermoor “ ist auch die Geschichte eines jungen Mannes, der sich in eine Frau verliebt hat, die er hassen müsste, weil ihre Familie die seine vernichtet hat, und der an dieser Liebe, die Verrat an den Toten seiner Familie bedeutet, zugrunde geht. Und es ist die Geschichte eines in verwirrenden Umbruchzeiten vorzeitig zum Familienoberhaupt gewordenen, völlig überforderten und deshalb zu Wutausbrüchen neigenden jungen Mannes, der meint, das Überleben seiner Familie nur mit dem vom eigenen Vater auf zwielichtige Weise erworbenen Besitz der Familie Ravenswood sichern zu können und dazu seine geliebte Schwester und das eigene Glück der Familienraison opfert.
Vier
Die Protagonisten in Donizettis Oper sind alle jung und der Konflikt, den sie austragen, ist nicht eigentlich nicht der ihre, sondern der der Elterngeneration. Dass die beiden alten Ashtons zu Beginn der Oper bereits tot sind, nähert Enrico und Edgardo, die Todfeinde, die Lucia jeder auf seine Weise lieben, einander an. Es ist das Erbe der Väter, das auf ihren Schultern lastet, ihre Vorstellung, der Familie und den Toten etwas zu schulden, die ihnen verbietet, einfach zu lieben und zu leben. Das verwischt die Grenzen zwischen Gut und Böse nicht, aber es verschiebt sie ein wenig. Die völlige Leere, mit der das Stück endet, die endgültige Vernichtung der Familie Ravenswood durch den Selbstmord Edgardos, dem angesichts des Verlusts von Lucia jeder weitere Kampf mit den Ashtons sinnlos erscheint, der bittere Triumph der überlebenden Ashtons, die ihren unrechtmäßig erworbenen Besitz nun wohl behalten können, aber begreifen, dass der Preis für den Kampf darum – das Leben Arturos, Lucias und Edgardos – viel zu hoch war und deshalb niemals auf diese Weise hätte geführt werden dürfen, kündigt sich schon an im Vakuum des Beginns, mit dem Trauermarsch des Vorspiels. Langsam entsteht er aus absoluter Stille und füllt die Bühne mit einer Aura der Ausweglosigkeit, bevor er durch drei zur Ordnung rufende Fortissimoakkorde abgebrochen, rhythmisch akzentuiert fortgesetzt und nach einer knappen Generalpause durch den hoch aggressiven ersten Chor ersetzt wird.
Fünf
Die Dramaturgie der Belcanto-Oper beruht auf Konventionen und mit denen spielen Donizetti und Cammarano. Dazu gehört, dass das große Liebesduett zwischen Tenor und Sopran, klassischerweise im zweiten Akt, bereits im ersten stattfindet und an dessen Stelle im zweiten das höchst ambivalent komponierte Duett zwischen Bruder und Schwester, Bariton und Sopran, tritt. Es ist also vielleicht kein Wunder, wenn Lucia später in ihrer Wahnsinnsszene Bräutigam, Verlobten und Bruder verwechselt, Enrico als Edgardo anspricht und mit ihm ihre Hochzeit, die eigentlich mit Arturo stattfand, reimaginiert. Die konventionellen Auftritte der Nebenfiguren, die das Erscheinen der zentralen Protagonisten ankündigen und ihre zentralen Arien vorbereiten, sind geschickt eingesetzt und von rhetorischer Brillanz: Normanno erzeugt Enricos doppelten Wutausbruch, seine Auftrittsarie, in der er gegen Edgardo und Lucia wettert, mit wenigen, wohlgesetzten Worten. Nach dem Mord an Arturo konditioniert Raimondo die Hochzeitsgäste – und natürlich auch die Zuschauer jenseits der Rampe – erfolgreich auf Mitleid mit Lucia, bevor diese blutig aus dem Brautgemach erscheint und in zunehmend verwirrtem Zustand ihre eigene Sicht auf das Geschehen präsentiert: ihre Wahnsinnsszene. Ununterbrochen werden Emotionen manipuliert; musikalische Rhetorik dient hier nicht nur dazu, die Zuschauer im Saal zu rühren – performatives Ziel jeder Belcanto-Oper – sondern zugleich das jeweilige Gegenüber auf der Szene. Dieser Prozess endet erst in der zu Unrecht meist gestrichenen Rezitativszene zwischen Enrico, Normanno und Raimondo im Anschluss an die Wahnsinnsszene, in der sie offen darüber diskutieren, wer die Verantwortung für das entstandene Desaster trägt, und dann Edgardos berührender letzter Selbstreflexion die Bühne überlassen. »Lucia di Lammermoor« braucht eine szenische Form, die diesen doppelten Boden erfahrbar macht.
Sechs
Scotts Geschichte spielt in Schottland, doch in Donizettis Musik gibt es keinen Hinweis darauf. Er erzählt die drei ineinander verwobenen Geschichten von Lucia, Edgardo und Enrico in der als universell verstandenen musikalischen Sprache der Liebe, des Hasses, der Wut, der Leidenschaft: Obwohl auf italienisch gesungen wird, erheben die musikalisch freigesetzten Emotionen den Anspruch, für alle Orte und alle Zeiten gültig sein. Es gilt also ein historisches Setting zu finden, das die geschichtlichen Voraussetzungen von Lucias, Edgardos und Enricos emotionalen Verstrickungen so evident werden lässt, dass Kölner Zuschauer des Jahres 2016 der Folge der von Librettist und Komponist konstruierten Überdruckkonstellationen folgen und sie intuitiv in ihrer Vielschichtigkeit verstehen können. Während die große Liebe zwischen Lucia und Edgardo keine Begründung braucht, außer, dass sie wider alle Vernunft existiert und die Liebenden sich in ihr lebendig fühlen, bleibt der Hass zwischen den beiden Familien eine leere Behauptung, wenn die historisch-politischen Gründe für ihn nicht konkret werden. Man muss sie kennen, um die Figuren in ihrer inneren Gebrochenheit, ihrer Zwanghaftigkeit verstehen und die Ausweglosigkeit der familiären Konstellationen begreifen zu können. Scotts Geschichte ist dabei für heutige Zuschauer wenig hilfreich, denn sie ist sehr komplex. In seinem Roman, der auf kunstvolle Weise Geschichte erzählt und in den Beziehungen seiner Figuren aufscheinen lässt, sind die Ravenswoods Jakobiten, also Anhänger des in der ›Glorious Revolution‹ abgesetzen und durch seinen Schwiegersohn William of Orange ersetzten James II. (als schottischer König James VII.) und der nachfolgenden Kronprätendenten aus der Dynastie der Stuarts, sowie Anhänger der schottischen Episkopalkirche und deswegen enteignet worden. Edgar Ravenswood ist der letzte Überlebende der verarmten Familie, der alles, sogar ihr Titel genommen wurde, und haust versteckt in der Ruine eines alten Turms am Rande des Anwesens, das einmal der stolze Sitz seiner Familie war und in dem nun Lucys Familie wohnt. Lucys Vater ist durch den Machtwechsel zu William und Mary und die Heirat mit einer Frau aus einer der bedeutendsten Familien Schottlands der Aufstieg in eines der höchsten Staatsämter gelungen, das die Krone in Schottland zu vergeben hat, er ist Lord Keeper, also der Bewahrer des Königlichen Siegels für Schottland, und damit unter anderem auch für die presbyterianische Kirchenbehörde zuständig, die die Episkopalen verfolgt. Dank seiner politischen Verbindungen hat er sich den gesamten Besitz der Ravenswoods auf raffinierte Weise angeeignet. Etwa dort, wo die Opernhandlung beginnt, kündigt sich im Roman der ›State of Union Act‹ von 1707 an, der den gesamten schottischen Adel in ein britisches, d. h. gemeinsames englisch-schottisches Parlament integrieren wird, und, in Verbindung mit der angestrebten Aussöhnung der verschiedenen Parteien, auch eine Restitution enteigneten Besitzes nach sich ziehen könnte. Weitsichtig suchen die Ashtons in diesem noch instabilen politischen Umfeld nach neuen Allianzen, denn sie sind davon bedroht, alles in den letzten Jahren Erworbene wieder zu verlieren. Das Team um Regisseurin Eva-Maria Höckmayr hat sich, um die politische Umbruchsituation, mit der die jungen Ashtons und Edgardo Ravenswood zu Beginn der Oper konfrontiert sind, für hier und heute visuell evident zu machen, entschieden, ihre Geschichte im Kontext der deutschen Nachkriegszeit zu erzählen. Die Konfliktlinien der politischen, religiösen (und natürlich rassistischen) Verfolgung und Enteignung im Nationalsozialismus und der Fragen der Restitution, die auf den Zusammenbruch Hitlerdeutschlands folgten, sind auch uns Nachgeborenen so präsent, dass sie auch unter den Bedingungen äußerster szenischer Verknappung intuitiv verstanden werden können. Der erste Teil des Stücks „ La partenza (Die Abreise) “ spielt in den letzten Kriegstagen im Frühjahr 1945: Der Zusammenbruch Nazideutschlands hat bereits begonnen und die Eliten, die dank des Regimes Karriere gemacht und von ihm profitiert haben, nehmen sich das Leben oder vernichten Beweise und warten mit gemischten Gefühlen auf die Ankunft der alliierten Truppen, während die Überlebenden unter den Verfolgten sich allmählich aus ihren Verstecken wagen können. Die Geschwister Ashton erzählen sich in diesem Kontext als Kinder hoher Nazis, Edgardo Ravenswood als letzter Überlebener einer enteigneten und ermordeten, vermutlich jüdischen Familie, die einmal in dem Haus, dass nun die Ashtons bewohnen, zuhause war.
Der zweiaktige zweite Teil „ Il contratto nuziale (Der Ehevertrag) “ spielt dann kurz vor Gründung der Bundesrepublik, in jener Übergangszeit der Jahre 1948 / 49, als die politische Säuberung durch die Alliierten schon an Schwung verloren hatte, das Fraternisierungsverbot im Umgang mit Deutschen aufgehoben war und die alten Eliten angesichts des Kalten Krieges realistischerweise vermuten konnten, bald wieder gebraucht zu werden. Zu diesem Zeitpunkt eröffneten die alliierten Restitutionsgesetze von 1947 zumindest in den drei westlichen Besatzungszonen Überlebenden die Chance, verlorenes Eigentum zurückzufordern, in vielen Fällen wurde eine Rückübertragung jedoch behindert und verschleppt. Arturo Bucklaw, dessen dramaturgische Funktion darin liegt, dass eine Heirat Lucias mit ihm Familie Ashton den übergangslosen Wiederaufstieg ermöglichen kann, wird zu einem Amerikaner, Sohn eines hohen Repräsentanten der alliierten Besatzungstruppen.
Sieben
Eine Opernaufführung ist keine Geschichtsstunde. Bei dieser Verlagerung des Stücks in eine uns zugänglichere Zeit, darf die melodramatische Struktur, die ihm zugrunde liegt, nicht vergessen werden. Es kann nicht darum gehen, eine bis ins Detail plausible Geschichte zweier spezifischer deutscher Familien zwischen 1933 und 1949 zu erzählen – und schon gar nicht geht es um die Brünner Familie Tugendhat, deren berühmtes, von Mies van der Rohe gebautes, von den Nationalsozialisten enteignetes und heute, auch als mahnendes Beispiel für die in der NS-Zeit mutwillig zerstörte mitteleuropäische deutsch-jüdische Kultur, zum UNESCO-Weltkulturerbe zählendes Haus das ›Haus Ravenswood‹ auf der Bühne inspiriert hat. Vielmehr stehen die Geschwister Ashton, zu denen der erzählerische Ansatz auch den aggressiven Hauptmann Normanno, den auch an der falschen Stelle den Ausgleich suchenden Priester Raimondo und Lucias Vertraute Alisa zählt, gemeinsam für die deutsche Gesellschaft der Nachkriegsjahre insgesamt, die sich zu großen Teilen angesichts von Not und Zerstörung in Selbstmitleid erging und gleichzeitig aggressiv den erworbenen status quo gegen die während der NS-Zeit verfolgten Opfergruppen verteidigen wollte, sich schon nach kurzer Zeit manisch ›amerikanisierte‹ und – oft erfolgreich – die Protektion der alliierten Besatzungstruppen suchte. Die unzähligen Nachkriegsgeschichten über GIs und ihre ›deutschen Fräuleins‹ haben auch eine gesamtgesellschaftliche Dimension. Edgardos Situation kann für die vielen innerlich zerrissenen Überlebenden stehen, die alles, Familie, Besitz und Heimat, verloren hatten und nun mit den alten Unterdrückern um den letzten Rest des Familienerbes kämpfen mussten. Angesichts der vielen Toten und des eigenen Überlebens von Schuldgefühlen geplagt und zugleich mit einer Gesellschaft konfrontiert, in der auf einmal keiner mehr ein Nazi gewesen sein wollte, schwankten viele von ihnen zwischen Rachephantasien, Sarkasmus und Resignation. Dass hiervon in erster Linie durch die – emotional überhöhten und im Detail oft unrealistisch konstruierten – Beziehungen der Figuren zueinander erzählt wird, soll den historischen Konflikt und das Leid nicht verkleinern. Wie in Viscontis "La caduta degli dei (Die Verdammten)", dem berühmten Film aus dem Jahre 1969, der scheinbar von der Familie Krupp in der NS-Zeit handelt, tatsächlich aber auf ein bewusst opernhaftes Sittengemälde des Deutschlands der 1930er und 1940er Jahre zielt, geht es um eine Spiegelung von Geschichte in melodramatischen Strukturen. Der Filmhistoriker Marcus Stiglegger beschrieb Viscontis Erzählweise als "stilisierte Form der überbordenden schicksalsschweren Verdi-Oper": In der Belcanto-Oper können historische Konflikte nur als persönliche ausgetragen werden; sie fordert den Zuschauer auf, Geschichte und ihre Machtkonstellationen auf sinnlicher Ebene zu entschlüsseln.