Gefangen in Don Giovannis Labyrinth

Erleben wir in der Oper einen ganz normalen Tag im Leben von Don Giovanni?

Für Don Giovanni gibt es grundsätzlich keine Normalität. Er braucht den Exzess, er kann kein „normales Leben“ führen. Der Tag, den wir in der Oper erleben, unterscheidet sich aber tatsächlich von allen anderen. Es ist das erste Mal, dass Don Giovanni jemanden tötet. Dieser Mord am Komtur bestimmt ab sofort sein Leben.

Einer der ersten Sätze Don Giovannis in der Oper lautet: „Chi son io, tu non saprai“ – Wer ich bin, wirst du nie erfahren. Wer oder was ist Don Giovanni für dich?

Neben der Figur auf der Bühne geht es für mich um die Essenz von Don Giovanni: das Chaos und die Kraft, die unser Leben in Bewegung setzt und die uns mit der Frage konfrontiert, wer wir sein wollen. So ergeht es allen Figuren in dem Stück. Und so ergeht es uns als Zuschauer*innen. Don Giovanni repräsentiert die wilde Seite in uns allen. Das übt auf uns eine Anziehung aus, die wir nicht so leicht kontrollieren können. Am Ende müssen wir dazu Stellung beziehen. Das Bühnenbild entführt uns in das innere Labyrinth von Don Giovanni, in das alle Figuren hineingeraten und sich wieder neu orientieren müssen. Wenn Don Giovanni existieren will, muss er sich selbst mit neuen Emotionen füttern und gleichzeitig die Menschen um ihn herum beeinflussen. Ihm fehlt jegliche Empathie für andere und er lässt es nicht zu, dass jemand tiefer in sein Innerstes vordringt. Er hat nie genug, er konsumiert lediglich und macht, was er will. Aber in einer Gesellschaft stehen nicht nur die Wünsche des Einzelnen im Zentrum, es gibt immer auch die anderen Menschen.

Glaubst du daran, dass Don Giovanni 2064 Frauen verführt hat?

Ja! Er ist ein unglaublich attraktiver Mann, nicht nur äußerlich. Er schafft es, in jedem Menschen dessen Sehnsüchte zu wecken. Die Frauen, die Leporello in seiner Registerarie aufzählt, sind ihm definitiv verfallen.

Und wie steht es mit den Frauen, denen wir in der Oper begegnen?

Uns werden drei verschiedene Frauenfiguren gezeigt: Donna Elvira, die ihn liebt und einfach nicht über ihn hinwegkommt. Zerlina, die sich im ersten Moment zu Don Giovanni hingezogen fühlt, sich aber dann für das Leben mit Masetto entscheidet. Und Donna Anna, die sich bereits für Don Ottavio entschieden hat. Sie fällt nicht auf Don Giovanni herein, sie kämpft gegen ihn.

Hat Don Giovanni noch weitere Gegenspieler?

Alle Figuren, die uns in der Oper begegnen, sind gezwungen, sich Don Giovanni gegenüber zu positionieren. Don Ottavio ist natürlich das ganze Gegenteil von Don Giovanni. Er ist freundlich, bodenständig und will ein friedliches Leben führen. In meinen Augen ist Don Ottavio nicht schwach, sondern sehr einfühlsam. Dann gibt es Masetto. Er ist ebenfalls sehr einfühlsam, aber er ist jung und hat noch nicht so viel Lebenserfahrung. Er schiebt die Schuld zunächst auf Zerlina, aber dann versteht er, dass nicht sie, sondern Don Giovanni das Problem ist. Und dann wäre da noch der Komtur. Um diese Figur zu verstehen, müssen wir noch einmal zu den verschiedenen Bedeutungsebenen Don Giovannis zurückkehren. Wenn Don Giovanni die Verkörperung des Zügellosen, des Chaos ist, dann ist der Komtur das Sinnbild für das Gesetz, das den Aufbau einer Gesellschaft ermöglicht. Er steht für das Anerkennen von Grenzen im Leben. Wir brauchen Menschen wie den Komtur. Unsere heutige Gesellschaft ist voller Don Giovannis und wenn nur noch Don Giovannis an der Macht sind, sind wir erledigt.

Und wer ist der Komtur auf der Bühne?

Er ist ein Vater, der sein Leben für seine Tochter Donna Anna opfert. Das ist ein Akt der Liebe. Ich glaube nicht, dass er sich dafür an Don Giovanni rächen will. Stattdessen gibt er ihm die Chance, „nein“ zu sagen. Er tötet Don Giovanni nicht am Ende, er öffnet nur das Tor zum Abgrund und Don Giovanni überschreitet die Schwelle selbst.

Es ist Donna Elvira, die bis zuletzt an der Liebe zu Giovanni festhält. Warum kommt sie nicht von ihm los?

Ich glaube, dass Donna Elvira und Don Giovanni in ihrer Beziehung sehr weit gegangen sind. Im Libretto wird sogar von Heirat gesprochen, ich interpretiere das zumindest als tiefe, innere Verbindung. Aber es war eine toxische Liebe und Elvira hat dabei die Kontrolle über sich selbst verloren. Sie ist im Grunde eine sehr starke und leidenschaftliche Person, die sehr empathisch ist. Elvira sieht in Don Giovanni nur die leuchtende Seite und blendet alles Dunkle aus. Sie hat erfahren, wie schön und voller Energie das Leben mit ihm sein kann und sie denkt, dass sie ohne ihn ein Niemand ist. Das stimmt natürlich nicht. Als Don Giovanni fortging, hat sie sich selbst verloren.

Und wie geht es Donna Anna mit Don Giovanni?

Ich glaube nicht, dass sich Donna Anna zu Don Giovanni hingezogen fühlt. Sie wurde von ihm überfallen und hat in derselben Nacht ihren Vater verloren. Sie ist am Boden zerstört und hat keine Kraft mehr. Und in dem Moment, in dem sie zusammenbricht, ist Don Ottavio für sie da. Und nur weil er für sie da ist, kann sie verstehen und verarbeiten, was in jener Nacht passiert ist. Ich vertraue Donna Anna und der Musik von Mozart und glaube, dass sie Don Ottavio gegenüber die Wahrheit sagt: Sie wurde von Don Giovanni überfallen. Die Tatsache, dass Donna Anna zunächst glaubte, es sei Don Ottavio, der ihr Schlafzimmer betreten hat, zeigt meiner Meinung nach nur, dass Donna Anna und Don Ottavio auch eine körperliche Beziehung miteinander haben. Da ist eine sehr tiefe Verbindung zwischen ihnen, es ist eine sehr erwachsene Liebe. Die wahre Liebe.

Haben sie nach allem, was geschehen ist, noch eine Chance?

Natürlich! Don Ottavio zeigt auch, dass er für einen Moment verzweifelt ist. Für ihn ist es nicht leicht, mit jemandem zusammen zu sein, der leidet. Aber Donna Anna versichert ihm, dass sie ihn liebt, sie braucht einfach nur Zeit. Ihre letzte Arie „Non mi dir, bell’idol mio“ ist eine große Liebeserklärung, auch hier vertraue ich der Musik. Anna und Ottavio vergessen nicht, was passiert ist, aber sie schaffen es, ihre Krise gemeinsam zu überwinden.
 

Zerlina und Masetto?

Sie schaffen das auch! Es ist fantastisch, wie sich die beiden am Ende dafür entscheiden, das Leben zusammen zu genießen. Sie sind die Jüngsten in der Oper. Am Anfang befinden sie sich an einem Punkt im Leben, an dem noch alles in Ordnung ist. Dann lernen sie die dunkle Seite kennen. Ich vertraue auch Zerlina. Natürlich zweifelt sie für einen Moment an ihrem Leben, als Don Giovanni mit ihr flirtet. Sie fühlt sich durchaus zu ihm hingezogen, von seiner Kraft und der Möglichkeit einer neuen Erfahrung. Aber als sie versteht, dass sie Masetto verlieren würde, entscheidet sie sich gegen Don Giovanni. Die Musik und das Libretto sind auch hier sehr eindeutig: Im Finale des ersten Aktes will sie nichts mehr mit Don Giovanni zu tun haben. Sie schreit um Hilfe. Masetto stellt zunächst das Vertrauen gegenüber Zerlina infrage, aber er schafft es, ihr zu vergeben.

Und was wird aus Leporello?

Ich weiß es nicht. Er braucht auf jeden Fall Zeit, um alles zu verarbeiten und er wird keinen neuen Don Giovanni mehr finden. Leporello ist die mysteriöseste Figur von allen. Wir erleben in der Oper, wie er mit sich selbst kämpft, ob er an der Seite von Don Giovanni bleiben soll und ob er so werden will wie er. Er wäre gern so frei wie Don Giovanni. Er fühlt sich durch ihn inspiriert. Aber im Unterschied zu Don Giovanni empfindet Leporello Empathie für andere Menschen. Er glaubt sogar, Don Giovanni könnte sich ändern, aber am Ende muss er ihn ziehen lassen. Und was bleibt, ist das Gefühl der Leere, nachdem das Abenteuer seines Lebens vorbei ist, aber vielleicht auch die Erkenntnis, dass dies nicht das wahre Leben gewesen ist. Ein Feuerwerk ist fantastisch, aber es wärmt und erleuchtet nicht dein Haus und wenn du zu viel Feuerwerk zündest, kann dein Haus niederbrennen.