Die Zauberflöte

„Macht und Gerechtigkeit“ – Im Gespräch mit Michael Hampe

Interview

Michael Hampe und „Die Zauberflöte“ haben in Köln eine lange gemeinsame Vorgeschichte. Im Gespräch mit Georg Kehren erzählt der ehemalige Intendant der Oper Köln von der Neuproduktion für die Spielzeit 2020/21.

GEORG KEHREN Herr Professor Hampe, Sie haben sich im Laufe Ihrer künstlerischen Karriere immer wieder mit Schikaneders und Mozarts »Die Zauberflöte« beschäftigt. Welche Entdeckungen, die Sie dabei gemacht haben, würden Sie besonders hervorheben?

MICHAEL HAMPE Meine erste »Zauberflöte« habe ich 1963 am Theater Bern inszeniert – zum Sängerensemble gehörte der junge Bariton Christian Boesch, der im ersten Anfängerjahr war und später ja so etwas wie der ›Welt-Papageno‹ wurde. Das war, muss ich gestehen, bei dieser Gelegenheit von meiner Seite aus szenisch ganz naiv erzählt, eigentlich nur der Märchenhandlung folgend und auch noch ohne nähere Kenntnisse der Entstehungsgeschichte. Diese Entstehungsgeschichte muss man jedoch kennen, um zu begreifen, was das Stück zu Mozarts und Schikaneders Zeiten, und insbesondere vor dem geistigen Hintergrund der Aufklärung, überhaupt wollte.

GK Was wollte es damals?

MH Mit der »Zauberflöte« wurde zur Zeit der Uraufführung eine Geschichte erzählt, die zwar im Gewande des Märchens daherkam, aber politisch brisant war. Sie war, unbenommen ihres großen Unterhaltungswerts, weit davon entfernt, wie man das später vielleicht manchmal missverstanden hat, nur Unterhaltung zu sein. Die Schöpfer dieses Werks hatten etwas zu sagen, und das war ganz aus dem Geiste der Aufklärung geboren. Bei den Aufführungen sollen vor dem Theater auf der Wieden Handzettel verteilt worden sein, durch die das Publikum gleich auf die ›richtige Schiene‹ gesetzt wurde.

GK Mit Informationen welchen Inhalts?

MH Mit Hinweisen zur Bedeutung der Figuren. Die Königin der Nacht sei als das verhasste Ancien Régime zu verstehen, Pamina als die zu erringende Freiheit, die drei Damen als die drei Stände, also Adel, Bürgertum und Bauern, die drei Knaben als Liberté, Egalité und Fraternité (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit). Das Werk wurde also sofort politisch verstanden, was im Wien des Jahres 1791, also zur Zeit der Französischen Revolution, weiß Gott nicht ungefährlich war – zu der Zeit rollten in Paris ja schon die Köpfe, und wenig später auch der Kopf von Königin Marie Antoinette [3], bei der es sich bekanntlich um die Schwester der österreichischen Kaiser Joseph II. [1] und Leopold II. [2] handelte. Das liberale System Josephs II. hatte in Wien zu diesem Zeitpunkt bereits ausgedient, stattdessen kam sein Bruder Leopold, unter dem sich alles wesentlich reaktionärer und restriktiver entwickelte – Graf Pergen [4], der frühere Zensor, war inzwischen zum Polizeiminister avanciert und eine seiner ersten Maßnahmen bestand darin, alle Freimaurerlogen – darunter auch jene, der Mozart und Schikaneder angehörten – zu nur einer zusammenzufassen, damit sie sich polizeilich besser kontrollieren ließen.

1 — JOSEPH II., 1741–1790, ältester Sohn der österreichischen Herrscherin Maria Theresia; zunächst, ab 1765 Mitregent, ab 1780 Nachfolger seiner Mutter; ab 1765, nach dem Tod seines Vaters Kaiser Franz I. Stephan, zudem römisch-deutscher Kaiser. Joseph II. war ein wichtiger Förderer Mozarts; insbesondere die Entstehungsgeschichten von dessen Opern »Die Entführung aus dem Serail« (1782), »Le nozze di Figaro« (1786) und »Così fan tutte« (1790) sind mit dem Namen dieses gebildeten Monarchen verknüpft.

2 — LEOPOLD II., 1747–1792; zunächst Großherzog der Toskana, ab 1790 Nachfolger seines Bruders Joseph als römisch-deutscher Kaiser und König von Böhmen, Kroatien und Ungarn; weniger kunstsinnig als sein Vorgänger. Anlässlich der Krönung Leopolds zum König von Böhmen in Prag (im September 1791, dem Uraufführungsmonat der »Zauberflöte«) komponierte Mozart die Opera seria »La clemenza di Tito« (»Die Milde des Titus«), mit der er – anhand der Würdigung der Titelgestalt, des römischen Kaisers Titus – als ehrerbietiger Künstler seine Verbeugung vor dem neu gekrönten Leopold und vor den angeblichen Herrschertugenden des Hauses Habsburg zum Ausdruck bringen wollte. Der Monarch blieb indessen unbeeindruckt. Leopolds überraschender Tod – im März 1792, nur wenige Wochen nach Mozarts Ableben – gab vielerlei Gerüchten Nahrung, unter anderem jenem, er sei von den Freimaurern vergiftet worden.

3 — MARIE-ANTOINETTE, 1755–1793, ursprünglich Maria Antonia von Österreich; ab 1770 mit dem französischen Dauphin Louis-Auguste (später: König Louis XVI.) verheiratet, war sie ab 1774 – bis zu seiner Absetzung 1792 – als dessen Gemahlin Königin von Frankreich und starb, wie auch er, unter der Guillotine.

4 — JOHANN ANTON GRAF VON PERGEN, 1725–1814, Diplomat und Staatsminister, und als solcher unter anderem einer der einflussreichsten Ratgeber Josephs II. und Leopolds II.

GK Mittlerweile sind 230 Jahre vergangen, und unser gesellschaftlich-politischer Hintergrund ist mittlerweile natürlich ein völlig anderer. Wie lässt sich, unter Berücksichtigung des Erfahrungshorizonts des heutigen Publikums, das zeitlose Moment der »Zauberflöte« herausschälen?

MH Natürlich kann man die politischen Implikationen der damaligen Zeit nicht unmittelbar auf unsere Zeit übertragen. Aber man kann das Hauptanliegen dieses Werks herausstellen, das die große Utopie des ganzen 18. Jahrhunderts beinhaltet, die auch heute noch ungebrochen gültig ist.

GK Welche Utopie?

MH Dass Macht und Gerechtigkeit vereinigt seien. Dass »geprüfte, gerechte Fürsten« die Macht ausüben. Vor dem Hintergrund der heutigen politischen Weltlage wird man die aktuelle Bedeutung dieser Utopie kaum in Frage stellen können. Die Utopie, dass der Macht die Gerechtigkeit hinzugefügt werde, setzt natürlich ein allgemeines Bewusstsein für die Idee von »Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit« voraus, also eine fortschrittliche, sich weithin unter den Menschen verbreitende Kraft – im Dienste der Aufklärung. Die Freimaurer in Mozarts Wien vertraten im Grunde die Ideale der Französischen Revolution – ›Liberté, Egalité, Fraternité‹ – aber evolutionär, ohne Guillotine sozusagen, und diese Ideale haben Mozart und Schikaneder auf die Bühne gebracht.

„Das Werk wurde also sofort politisch verstanden, was in Wien des Jahres 1791, also zur Zeit der Französischen Revolution, weiß Gott nicht ungefährlich war.“
Michael Hampe

GK Also kommt es Ihres Erachtens auf die Vermittlung und Herausbildung eines besonderen Bewusstseins bei jedem Einzelnen an. Von welchen Einflüssen haben beispielsweise Sie da profitiert? Was war Ihre höchstpersönliche »Feuer und Wasser«-Probe?

MH Den Vergleich mit einem Prinzen Tamino will ich hier für mich nicht anstellen, aber man darf festhalten, dass die Frage der Persönlichkeitsreifung und der auf diesem Weg zu bestehenden Prüfungen nicht umsonst über Jahrhunderte essentieller Bestandteil von Philosophie und Literatur war. Es gab zahlreiche sogenannte ›Prüfungsromane‹. Und auch für die Freimaurer bildete das ein Kernthema. Mozart hatte ja schon 11 Jahre vor Entstehung der »Zauberflöte«, als er Schikaneder in Salzburg kennenlernte, für diesen die Bühnenmusik zu »Thamos, König von Ägypten« von Gebler [5], geschrieben. Auch da muss sich ein künftiger Herrscher in einer Prüfung bewähren. Man begegnet diesem Thema, dass ein Prinz erzogen beziehungsweise geprüft werden muss, immer wieder, auch in der Oper – bis hin zu Rossinis »La Cenerentola« (»Aschenputtel«), wo Prinz Ramiro lernen muss, das wirklich Gute, Wesentliche vom Schlechten, nur äußerlich Glänzenden zu unterscheiden. In der hier vorgestellten szenischen Version der »Zauberflöte« wurden, um den Bezug der Freimaurer zu diesem Thema der Desillusionierung zu verdeutlichen, einige Sätze den Schriften von Ignaz von Born [6] angenähert, der ein großer Wissenschaftler und zugleich Großmeister aller Wiener Freimaurer-Logen war. Interessant in diesem Zusammenhang: Als es gefährlich wurde, Freimaurer zu sein, verließ er die Loge.

5 — TOBIAS PHILIPP FREIHERR VON GEBLER, ca. 1720 Greiz – 1786 Wien, hoher österreichischer Staatsbeamter und zugleich Dramatiker und Autor, der sein Gedankengut als Freimaurer in seine Schriften einfließen ließ.

6 — IGNAZ EDLER VON BORN, 1742 Karlsburg/Rumänien – 24.7.1791 Wien; als Mineraloge, Geologe und Freimaurer seit 1782 ›Meister vom Stuhl‹ der Wiener Loge ›Zur wahren Eintracht‹. Mozart war Mitglied der Schwesterloge ›Zur Wohlthätigkeit‹, besuchte jedoch auch regelmäßig Borns Loge und stand im Kontakt mit diesem. Born gilt gemeinhin als Vorbild für die Figur des Sarastro.

GK Erlauben Sie mir noch einmal die Frage: Was würden Sie im Nachhinein als IHRE Prüfungsstationen beschreiben?

MH Ich habe meistens nach dem Prinzip ›Versuch und Irrtum‹ gelernt. Etwa wie eine Ratte im Käfig, die, wenn sie die falschen Tasten drückt, einen Elektroschock erhält, und wenn sie die richtige Taste drückt, eine Haselnuss bekommt – oder was immer Ratten gerne fressen. Ich lernte aus meinen Fehlern – und lerne immer noch daraus.

GK Haben Sie auch Impulse von außen erfahren – durch Vorbilder, wichtige Lehrer?

MH Natürlich, ich hatte phantastische Lehrer! Der erste war eigentlich Max Reinhardt [7], der natürlich nicht im leibhaftigen Sinne mein Lehrer war, denn er starb in der Emigration, als ich acht Jahre alt war. Aber mir fiel kurz danach ein Buch in die Hände, das von seinem Chefdramaturgen Heinz Herald [8] gemeinsam mit dem Bühnenbildner Ernst Stern [9] herausgegeben worden war, das hieß: »Reinhardt und seine Bühne«. Dieses Buch habe ich damals verschlungen, und danach war klar: Ich gehe zum Theater!

7 — MAX REINHARDT, 1873 Baden/Österreich – 1943 New York City; war als Regisseur, Intendant (Berlin, Wien) und Theaterproduzent – unter Abkehr vom Naturalismus, in Hinwendung zu einem sehr breitwirksamen, ›verzaubernden‹ Theaterstil – eine epochale, nachhaltig prägende Persönlichkeit des Theaters; als Jude war er 1937 dazu gezwungen, sich durch die Flucht in die USA dem Zugriff der Nationalsozialisten zu entziehen.

8 — HEINZ HERALD (eigentlich: Georg Pinner), 1890 Birnbaum/Posen, heute Polen – 1964 Kreuth/Bayern; Dramaturg, Regisseur, Autor und Theaterleiter; während der Zeit des Nationalsozialismus als Jude zur Emigration in die USA gezwungen, wo er in Hollywood arbeitete, kehrte er in seinen letzten Lebensjahren nach Deutschland zurück.

9 — ERNST STERN, 1876 Bukarest – 1954 London; rumänisch-deutscher Szenenbildner; Schöpfer großer, eindrucksvoller Bühnen-Tableaus; als Emigrant zuletzt in England lebend.

GK Gab es sonst noch Lehrer?

MH Da ist mein wichtigster Schauspiellehrer zu nennen, Joseph Offenbach [10]. Er war mein Lehrer, als ich in den 1950er-Jahren an der Falckenberg-Schule in München Schauspiel studierte. Ein ungeheuer genauer Phantasie-Trainer! Der ließ nichts durchgehen – alles, was nicht stimmte, nannte er »Geschlabbel« … er kam ja aus dem Hessischen, aus Offenbach, und das hörte man ja auch bis hinein in seine klassischen Rollen. Ein begnadeter Phantasie-Trainer! Und dann, noch ein paar Jahre vorher, hatte ich während eines Schuljahres in den USA das unglaubliche Glück, in Syracuse, im Staate New York, Louis Krasner [11] zu begegnen – jenem bedeutenden Geiger, für den Arnold Schönberg und Alban Berg ihre berühmten Violinkonzerte geschrieben haben. Der lehrte an der Universität von Syracuse, und er hat mich, mit meinen damals gerade mal 16 Jahren, in seine Kammermusikklasse aufgenommen. Ich weiß gar nicht mehr, wie es eigentlich dazu kam, denn ich war ja gar nicht an der Universität, aber durch die Kammermusik, und wie er sie vermittelte, und wie ich mich da als Cellist im Streichquartett bewähren musste, habe ich ungeheuer viel gelernt. Streichquartett ist ja eine Kunst-Art, in der man, im Gegensatz zur Oper, überhaupt nicht mogeln kann. Und das war für mich – im Nachhinein betrachtet – die beste Schule, die ich jemals haben konnte. Als Krasner merkte, dass ich auf meinem Cello immer schwelgen wollte, hat er mich, wahrscheinlich als pädagogische Maßnahme, in ein Streichquartett mit Senior-Students gesetzt, die alle fünf Jahre älter waren als ich. Das war für mich eine ganz schwere … ja, das war wirklich eine Prüfung, denn ich musste da ja irgendwie mitkommen, und die anderen waren viel weiter, viel routinierter als ich, und wenn es gar nicht mehr ging, setzte Krasner ein Lächeln auf und sagte: »And here we will just forget Michael’s cello … Go on, please.« Das war niederschmetternd – und Ansporn zugleich. Später kamen weitere bedeutende Lehrer hinzu, denen ich unendlich viel danke: Caspar Neher [12], Leopold Lindtberg [13], Walter Felsenstein [14], Giorgio Strehler [15], Friedrich Dürrenmatt [16].

10 — JOSEPH OFFENBACH (eigentlich Joseph Ziegler), 1904 Offenbach am Main – 1971 Darmstadt; deutscher Schauspieler, der nicht nur jahrzehntelang auf der Bühne, sondern – ab den 1950er-Jahren – auch im Film und im damals neuen Medium des Fernsehens erfolgreich war. Besondere Popularität erwarb er sich – von 1965 bis 1971 – in der Rolle des Familienvaters Kurt Scholz, an der Seite von Inge Meysel, in der alljährlich jeweils um eine spielfilmlange Folge erweiterten Serie »Die Unverbesserlichen«, die im Westdeutschland der 1960er- und 1970er-Jahre große Beachtung erfuhr und häufig als Wiederholung ausgestrahlt wurde.

11 — LOUIS KRASNER, 1903 Tscherkassy/Ukraine – 1995 Brookline/Massachusetts, einer der bedeutendsten Violinisten seiner Zeit, unter anderem Uraufführungs-Interpret der Violinkonzerte von Alban Berg (1936, Barcelona) und Arnold Schönberg (1940, Philadelphia/USA); als Sohn jüdischer Einwanderer seit seinem 5. Lebensjahr in den USA lebend, begann er seine Konzertkarriere in Europa und war nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA einer der renommiertesten Musikpädagogen.

12 — CASPAR NEHER, 1897 Augsburg – 1962 Wien; deutsch-österreichischer Bühnenbildner, und als solcher unter anderem ein wichtiger künstlerischer Wegbegleiter seines einstigen Klassenkameraden Bertolt Brecht; wirkte unter anderem in München, Zürich, Salzburg, Wien und Berlin.

13 — LEOPOLD LINDTBERG, 1902 Wien – 1984 Sils Maria; bedeutender Bühnen- und Filmregisseur; seit 1933 aufgrund seiner jüdischen Herkunft als Emigrant in der Schweiz lebend; dort maßgeblich am Schauspielhaus Zürich – seinerzeit ein ›Theater-Leuchtturm‹, an dem sich viele in der Emigration befindliche Bühnenschaffende zusammenfanden – tätig, in späteren Jahren auch als dessen Direktor; inszenierte auch häufig am Wiener Burgtheater.

14 — WALTER FELSENSTEIN, 1901 Wien – 1975 Berlin; österreichischer Regisseur und zugleich Gründer der Komischen Oper Berlin (1947, Ost-Berlin), die unter seiner Intendanz (1947 – 1975) als Stätte eines weithin ausstrahlenden modernen Musiktheaters Modell-Charakter für sich beanspruchen durfte; so ist er – bis in die heutige Zeit fortwirkend – als Reformer der Opernregie in die Musiktheatergeschichte eingegangen.

15 — GIORGIO STREHLER 1921 Triest – 1997 Lugano; italienischer Regisseur österreichisch-slawischer Abstammung, der sich unter anderem als Gründer und Leiter des legendären – und auf Gastspielen weltweit gefeierten – Mailänder Piccolo Teatro den Ruf als einer der bedeutendsten Theaterregisseure Europas erwarb.

16 — FRIEDRICH DÜRRENMATT, 1921 Konolfingen/Kanton Bern – 1990 Neuenburg; Schweizer Schriftsteller und Dramatiker; schuf Bühnenwerke wie »Der Besuch der alten Dame«, »Die Physiker«, »Der Meteor« sowie Romane wie »Der Richter und sein Henker«, »Der Verdacht«; als wichtiger, bis heute nachwirkender Theatertheoretiker vertrat er unter anderem die Auffassung, dass der verwirrend unüberschaubaren Moderne auf der Bühne allenfalls mit dem Genre der Groteske entsprochen werden könne.

GK ›Unheldischer‹ als Tamino kann der Held einer Oper eigentlich kaum eingeführt werden: Zu Beginn hören wir ihn »Rettet mich, schützet mich!« rufen, sehen ihn in Ohnmacht fallen und bekommen dann mit, wie er von den drei Damen gerettet wird. 

MH Tamino fängt als äußerst arroganter, mit Vorurteilen beladener junger Prinz an – als einer der noch kein wirkliches Urteilsvermögen besitzt und sich auch im Gespräch mit dem Sprecher ganz schrecklich übernimmt. Aus diesem Grunde äußert dieser Sprecher ja auch später seine Vorbehalte gegen die Zulassung Taminos zu den Prüfungen – ihm erscheint dieser prä-potente Prinz als Kandidat für spätere verantwortungsvolle Aufgaben schlichtweg ungeeignet. Tamino entwickelt sich jedoch, wird allmählich reifer und besteht sogar die Prüfung, bei der ihm auferlegt ist, unbedingt zu schweigen – selbst gegenüber der geliebten Pamina zu schweigen, was zu einem für diese fast tödlich endenden Missverständnis führt. Eine grausame, eigentlich unmenschliche Prüfung! Man muss diese Situation – wie alle Situationen bei Schikaneder und Mozart – ganz und gar ernst nehmen. Und auch Pamina ›wächst‹ und gewinnt Kontur: Am Anfang ist sie ein junges Mädchen. Dann muss sie durch eine ganze Reihe extremer Situationen gehen, um endlich mit Tamino zusammen die Feuer- und Wasser-Probe zu bestehen und um dann, als erste Frau überhaupt, eingeweiht und in den Bund aufgenommen zu werden.

GK Gleicht das aus Ihrer Sicht die frauenfeindlichen Implikationen dieses Werks aus?

MH Die Gemeinschaft der Eingeweihten in diesem Stück ist frauenfeindlich, das Werk selbst ist es nicht. Wenn sie die Entwicklung Paminas verfolgen, kann man es sogar als emanzipatorisch bezeichnen. Zunächst hat man es mit einem dezidiert frauenfeindlichen Männerbund zu tun. Doch während aus den Reihen der Eingeweihten zunächst »Bewahret euch vor Weibertücken: Dies ist des Bundes erste Pflicht!« zu vernehmen ist, hören wir am Ende »Ein Weib, das Nacht und Tod nicht scheut, ist würdig, und wird eingeweiht«. Die Frau wird schließlich als gleichberechtigte Partnerin gesehen, was deutlich macht, dass auch der Männerbund im Verlaufe der Geschichte eine Entwicklung durchläuft.

„Die Wahrheit ist nicht immer gut, weil sie den Großen wehe tut, Doch wär sie alle Zeit verhasst, So wär mein Leben mir zur Last.“
Pamina, Papageno, 1. Auflage, 17. Auftritt

GK Wie sehen Sie das in Hinsicht auf die sternenflammende, aber eigentlich ›nachtschwarze‹ Königin der Nacht? 

MH Sie hat ihr Ziel – und das Ziel ist die Macht, der ›Siebenfache Sonnenkreis‹. Die Königin der Nacht – eine Partie, die Mozart übrigens seiner Schwägerin Josepha Hofer [17] in die ›geläufige Gurgel‹ komponiert hat – ist manipulativ und scheut keine Mittel. Sie gewinnt den jungen, unerfahrenen Prinzen für ihre Zwecke, indem sie, sehr geschickt und wirkungsbewusst, an sein Mitleid appelliert. Er soll ihre Tochter befreien, und später begreifen wir: Es geht ihr überhaupt nicht um die Tochter, es geht ihr einzig und allein um den ›Siebenfachen Sonnenkreis‹, das Symbol der Macht.

GK Und ihr großer Gegenspieler Sarastro? 

MH Bei Sarastro [18], dem Obersten der Eingeweihten, handelt es sich um einen – was man manchmal vergisst – noch jungen Mann. Er liebt Pamina [19], die ihm anvertraute junge Frau, und er muss sich von dieser Liebe befreien.

17 — MARIA JOSEPHA HOFER, geb. Weber, 1758 – 1819; bei der ›Königin der Nacht‹ der Uraufführung handelte es sich um die älteste Schwester von Mozarts Ehefrau Constanze M., geb. Weber (1762 – 1842). Alle vier Weber-Schwestern, auch die besonders erfolgreiche und von Mozart in seiner Mannheimer Zeit heftig umworbene Aloisia (1760 – 1839) und die jüngste, Sophie (1763 – 1846), waren Sängerinnen. Gleichzeitig handelte es sich bei ihnen um direkte Kusinen des späteren »Freischütz«-Komponisten Carl Maria von Weber (1786 – 1826). In einem Brief Mozarts an Constanze vom 15.12.1781 bezeichnete der Komponist die Schwägerin Josepha als »faule, grobe, falsche Personn (sic), die es dick hinter den Ohren hat«.

18 — FRANZ XAVER GERL, 1764 – 1827, der ›Sarastro‹ der Uraufführung, war zu diesem Zeitpunkt 27 Jahre alt; gemeinsam mit seiner Ehefrau Barbara, die in der Uraufführung die Partie der Papagena sang, gehörte er von 1787 (damals noch in Regensburg, ab 1789 in Wien) bis 1794 dem Ensemble Emanuel Schikaneders an. Von 1802 bis 1826 am Nationaltheater Mannheim unter Vertrag, war er, sehr erfolgreich, in den letzten Jahren seiner Karriere ausschließlich als Schauspieler tätig.

19 — ANNA GOTTLIEB, genannt ›Nannerl‹ Gottlieb, 1774 – 1856; die (blutjunge) Uraufführungs-›Pamina‹ war von 1790 bis 1792 Mitglied der Truppe Emanuel Schikaneders. Als Tochter einer Sängerin und eines Schauspielers hatte sie bereits als Zwölfjährige in der Uraufführung von Mozarts »Le nozze di Figaro« die Partie der Gärtnerstochter Barbarina gesungen. Mit Rücksicht auf ihre zarte Mädchenstimme war Barbarinas kleine Arie, in der sie traurig vom Verlust der Nadel (Unschuld) singt, von Mozart besonders dezent instrumentiert worden.

GK Mit der Corona-Pandemie erlebt unsere Gesellschaft derzeit eine krisenhafte Situation, die sich in vielen Bereichen als eine Art ›Zerreißprobe‹ darzustellen beginnt. Dabei droht sich der Eindruck festzusetzen, dass die Menschen in der aktuellen Lage nicht so sehr von Utopien geleitet sind, sondern eher das Gefühl haben, Zeugen und Betroffene eines gesellschaftlichen Entfremdungs-Szenarios zu sein. Noch niemals zuvor war der Begriff ›Dystopie‹ so häufig zu hören. Hat diese Aktualität Sie in Ihrer Beschäftigung mit der »Zauberflöte« beeinflusst? 

MH »Die Zauberflöte« ist eine Geschichte, die ich – so gut ich kann und so objektiv wie möglich – erzählen will. Ich muss das nicht explizit auf Gegenwärtiges beziehen – das ist – wenn man so will – die Sache des aufmerksamen Publikums. Gleichwohl ›lese‹ ich dieses Werk natürlich aus der Sicht des modernen Menschen. 

GK Die deutsche Bühnenlandschaft – so äußerten Sie vor drei Jahren, während der Proben zu Beethovens »Fidelio« hier in Köln – werde die nächste Wirtschaftskrise nicht überstehen, jedenfalls nicht in ihrer bisherigen Form. Steht, aus Ihrer Sicht, zu befürchten, dass uns diese Krise nun auf ›pandemischem‹ Wege erreicht hat? 

MH Das ist eine ganz schwierige Frage. Zunächst: Das ›deutsche Stadttheater‹, beispiellos in der ganzen Welt, ist für sich genommen ein großer Wert. Die Städte, je nach Größe, und die Länder geben jedes Jahr Millionen, noch bevor auch nur ein Ton gesungen, ein Schritt probiert ist. Das ist eine ungeheuer großzügige Sache und verpflichtet uns ›leichtsinnige‹ Künstler zu einer großen Verantwortung. Wie wir mit dem Geld umgehen, muss sich also danach bemessen, warum uns dieses Geld zur Verfügung gestellt wurde, und der wesentliche Grund besteht für mich in den Werken, die es zu zeigen gilt. Als Regisseur wird es darum immer mein Ziel sein, dass das Publikum nach einer Aufführung das Bedürfnis verspürt, über das Werk zu sprechen, und eben nicht über meine spezielle Sicht darauf. Ich habe – und dazu stehe ich, auch wenn ich mir beim manchem damit den Ruf eines ›Fossils‹ einhandeln werde – als Regisseur die Aufgabe, Werk und Darsteller zum Blühen zu bringen, und selbst hinter der Aufführung zurückzutreten. 

GK Immer wieder stellen wir fest, dass neue Opern – selbst wenn sie bei ihrer Uraufführung die ihnen gebührende Wertschätzung durch das Feuilleton erfahren haben – vom Publikum nur zögerlich angenommen werden, und kaum mit der gleichen spontanen Begeisterung, die ältere, immer und immer wieder gespielte Opern bei ihm entzünden können. Wie schätzen Sie, aus Ihrer langen Erfahrung gesprochen, die Zukunft der Oper hinsichtlich der Erweiterung des gängigen Repertoires in die Moderne hinein ein?

MH Wenn ein Werk wirklich einen Wert hat, wird es sich durchsetzen, auch wenn das vielleicht eine Zeit lang dauert oder gar sehr lange – das ist meine feste Überzeugung. Wir haben in den zurückliegenden Jahren durchaus auch immer wieder Uraufführungen erlebt, die sofort begeistert angenommen wurden – ich nenne zum Beispiel die Opern von Aribert Reimann, dann natürlich auch Hans Werner Henze, mit dem ich viel gemacht habe, außerdem York Höller, dessen »Der Meister und Margarita« wir hier in Köln sehr erfolgreich erstaufgeführt haben, und es wären natürlich noch viele andere, auch jüngere, zu nennen. Das heißt: wir dürfen darauf vertrauen, dass es weitergeht. Die Schwierigkeit mit neuen Opernwerken besteht vor allem darin, dass sie keine für das ungeübte Ohr verständliche ›Grammatik‹ oder ›Syntax‹ haben.

GK Inwiefern?

MH Damit will ich sagen: Wenn jemand gar nichts von Oper weiß und sich nun spontan dazu entschließt, irgendwo auf der Welt eine Vorstellung von Bizets »Carmen« zu besuchen, wird er im Lauf der Aufführung häufig das dumpfe ›Todesmotiv‹ vernehmen und empfinden, dass sich ein Unheil zusammenbraut. Er wird etwas von der musikalischen Syntax begreifen. Wenn das nicht der Fall ist, wird eine neue Oper es beim Publikum schwer haben. Das ist der Grund, weswegen viele durchaus bedeutende neue Opern sich nur schwer im Repertoire verankern lassen. Aber die Zeit kann es bringen. Mein Paradebeispiel für die verzögerte Akzeptanz eines wirklich bedeutenden Werks ist Franz Schuberts C-Dur-Quintett [21] – das mit den zwei Celli. Nach Meinung Vieler handelt es sich dabei um eines der größten Kammermusikwerke, die je geschrieben wurden, auch nach meiner persönlichen Meinung – ich habe beide Celli, das ruhmbedeckte erste und das schwerere zweite, oft gespielt. Schubert legte dieses Quintett, unmittelbar, nachdem er es komponiert hatte, dem berühmten Schuppanzigh [20] vor – bei diesem Mann handelte es sich um den Prim-Geiger jener Formation, für die Beethoven seine letzten Quartette, die selbst für das heutige Ohr noch ›schwer verdaulich‹ sind, komponiert hatte. Schuppanzigh stand demnach wahrlich an der Spitze der Avantgarde, und dennoch: Als er Schuberts Quintett vor sich sah, äußerte er nur: »Brüderl, des is nix für dich, bleib’ du bei deine Lieder!« Das Quintett wurde daraufhin 25 Jahre nicht aufgeführt. Also, selbst ein solcher Fachmann kann sich irren! Das will heißen: Der Prozess, dass ein Werk, das bei der ersten Aufführung noch auf völliges Unverständnis gestoßen ist, dann schließlich doch langsam beim Publikum ›ankommt‹, kann sich lange hinziehen.

20 — IGNAZ SCHUPPANZIGH, 1776 Wien – 1830 ebenda; österreichischer Geiger und Dirigent

21 — STEICHQUINTETT C-DUR, op. post. 163, D 956; von Franz Schubert (1797 – 1828) vermutlich im September 1828, zwei Monate vor seinem Tod, komponiert, sieht es die für ein Streichquintett außergewöhnliche Besetzung mit 2 Violinen, 1 Viola und 2 Violoncelli vor. Innerhalb des Schubertschen Gesamtwerks wird diesem Kammermusikstück eine besondere Bedeutung beigemessen.

„Darum höre unsre Lehre an: Sei standhaft, duldsam, und verschwiegen!“
Drei Knaben zu Tamino, 1. Aufzug, 15. Auftritt

GK Wie stellt sich aus Ihrer Sicht die aktuelle Opernsituation in Asien dar, wo Sie ja regelmäßig tätig sind?

MH In China zum Beispiel entsteht derzeit ein Riesen-Kulturzentrum nach dem anderen, die neuen Theater schießen nur so aus dem Boden – nicht nur in Beijing oder Shanghai, auch in Städten wie Tianjin, Qingdao oder Guangzhou. Viele Menschen dort haben, wie man sich ja vorstellen kann, mit Oper bislang noch gar nichts ›am Hut‹ – wie auch? Aber, siehe da, es wird nicht nur gebaut, sondern es werden auch immer mehr Opern gespielt, und die Menschen nähern sich dem Ganzen mit Interesse – die Nachfrage wächst.

GK Wie erleben Sie derzeit im Rahmen der Proben, und auch auf Ihre szenische Konzeption bezogen, die strengen Auflagen und Abstandsregeln, die Ihnen – wie derzeit allen Theaterschaffenden – zwecks Eindämmung der Corona-Pandemie auferlegt sind?

MH Man muss in dieser Situation tun, was man kann, und ich bewundere den Mut der Oper Köln, unter diesen Bedingungen ein Stück wie »Die Zauberflöte« auf den Spielplan zu setzen, das – was den Aufwand betrifft, mit den vielen Personen und Aktionen – von vornherein ein riesiges Unternehmen bedeutet. Als Regisseur ist es für mich manchmal schmerzhaft, mich an die Auflagen zu halten, denn die emotionalen Höhepunkte dieser Oper verlangen eigentlich nach Nähe, die wir im Moment nun mal nicht zeigen können. Aber wir tun, was wir können, und ich finde es vollkommen richtig, dass man sich als Opernhaus auch in dieser Notlage behauptet und signalisiert: ›Es ist zwar eine Ausnahmesituation, aber wir sind zu allem bereit, und etwas können wir doch machen!‹ Wir haben, der Corona-Situation geschuldet, einiges adaptiert, ich habe außerdem einen Erzähler eingeführt, und immer dann, wenn wir mal wieder mit dem Rücken an der Wand stehen und nicht wissen, wie es jetzt weitergehen kann, dann finden wir, ganz schöpferisch, doch noch Lösungen. Der Zwang, ständig das Unmögliche doch noch möglich zu machen, kann sehr fruchtbar sein. Und wir sind es auch meinem Kollegen und lieben Freund Germán Droghetti schuldig, der in Santiago de Chile dieser Pandemie zum Opfer gefallen ist, um den ich sehr trauere, und der uns das Bühnenbild und die Kostüme für diese Aufführung nun gewissermaßen als postumes Geschenk hinterlassen hat. Wir sind ihm sehr verpflichtet.

GK Die Hoffnung, dass bald wieder unter gewohnten Bedingungen geprobt und gespielt werden kann, bleibt.

MH Wir wissen nicht, wie diese Situation weitergeht und wie und wann sie enden wird. Das kann noch lange gehen, aber wir dürfen nicht müde werden und nicht nachlassen.

GK Es freut, das aus dem Munde eines Theatermannes zu hören, der ja nun schon seit sage und schreibe 65 Jahren unermüdlich an vielen Bühnen in aller Welt im Einsatz ist.

MH Seit 75 Jahren, bitteschön! Als Zehnjähriger, also 1945, war ich bereits Theaterdirektor – und zwar auf der Weltbühne in Heidelberg-Handschuhsheim, auf dem Speicher eines Dreifamilienhauses. Damals sind wir hingegangen, haben Steine und Bretter von Baustellen geklaut und uns ein Bühnenbild gebaut. Das war toll, und das war – allen Beschränkungen zum Trotz – ›richtiges‹ Theater. Insofern hat sich, wenn man es mit heute vergleicht, in meinem Leben gar nicht so viel geändert, nur die Dimensionen sind etwas größer geworden.

„Wir wissen nicht, wie diese Situation weitergeht und wie und wann sie enden wird. Das kann noch lange gehen, aber wir dürfen nicht müde werden und nicht nachlassen.“
Michael Hampe

GK Was, würden Sie sich wünschen, soll das Publikum aus dem Besuch der »Zauberflöte« für sich mitnehmen?

MH Am ehesten würde ich mir wünschen, dass es uns mit Mozart als Schutzpatron auch in dieser coronabedingten Version der »Zauberflöte« gelingt, die erste Regel allen Theaters zu erfüllen, die da lautet: »Triff das Publikum mitten ins Herz!«

GK Herr Professor Hampe, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Das Gespräch von Georg Kehren mit Michael Hampe fand am 14. September 2020 im Zuschauerraum von Saal 1 des Kölner StaatenHauses statt.

DIE ZAUBERFLÖTE

Zur Produktion
Die Zauberflöte

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Die Zauberflöte
Wolfgang Amadeus Mozart
So., 16:00 bis 19:00 Uhr, StaatenHaus Saal 1
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Die Zauberflöte
Wolfgang Amadeus Mozart
Do., 19:30 bis 22:30 Uhr, StaatenHaus Saal 1
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Die Zauberflöte
Wolfgang Amadeus Mozart
Fr., 19:30 bis 22:30 Uhr, StaatenHaus Saal 1
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